Auf der Suche nach einer muslimischen Caritas – nicht nur für Alte
Die Zahl der Muslime steigt – und mit ihnen der Bedarf an Altenheimen, Frauenhäusern und einer Jugendarbeit, die sie auch erreicht. Doch die Verbände, die das organisieren könnten, mag der Staat kaum unterstützen. Experten warnen vor dem Schaden.
Seine Alten ins Heim abschieben? Nicht mit uns! Die bleiben in der Familie – solche Stimmen gab es noch vor 20 Jahren zuhauf in deutsch-türkischen Medien und muslimischen Verbänden. Die Idee eines Altenheims für Muslime war dort verpönt. Wer dafür warb, wie die damalige SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün, bekam Gegenwind. Heute dagegen verkündet der größte deutsche Moscheeverband DITIB gegenüber WELT, er plane in Duisburg das erste muslimische Altenheim der Republik. Der zweitgrößte Moscheedachverband, der Islamrat, begrüßt dies gegenüber dieser Zeitung. Und die türkischen Medien finden daran nichts mehr verwerflich.
Migrierte Arbeitskräfte von einst werden hilfebedürftig
Zumindest stark pflegebedürftigen oder dementen Senioren kann im Heim häufig besser geholfen werden – die Einsicht hat sich bei Muslimen durchgesetzt. Schließlich leben inzwischen mehr pflegebedürftige und an Demenz erkrankte Muslime im Land als je zuvor. In nennenswertem Umfang begann ihre Migration 1961. Wer damals als 20-Jähriger einwanderte, ist heute Mitte 80.
Doch „karitative Angebote für Muslime fehlen nicht nur bei Senioren, sondern an vielen Stellen“, erläutert Michael Kiefer von der Uni Osnabrück, bundesweit einer der wenigen Experten für muslimische Wohlfahrtspflege. So fördert NRW, das Bundesland mit den meisten Muslimen, zum Beispiel keine Hilfen für muslimische Senioren und kaum Kinder- und Jugendangebote von Muslimen für Muslime, so bestätigten Integrations- und Gesundheitsministerium auf WELT-Anfrage. Dabei hatten Bund und Länder vor genau zehn Jahren im Rahmen der Deutschen Islamkonferenz muslimische Wohlfahrtspflege zur zentralen Aufgabe erklärt.
Viel Tätowierung, wenig Schamgefühl
Warum muslimische Altenheime wichtig wären, begründet Michael Kiefer gegenüber WELT so: „Gerade für Menschen mit Demenz ist es eine große Hilfe, wenn sie möglichst viel von ihrem Lebensrhythmus bewahren können. Sie brauchen noch dringender als andere Senioren das Vertraute und Geborgenheit Spendende.“ Dieser Rhythmus sei für muslimische Einwanderer oft mit religiös geprägten Bräuchen, Gebet, Moscheebesuch, einem bestimmten Schamgefühl und ihrer Herkunftssprache verbunden. „Im Zuge ihrer Krankheit wird die vertraute Muttersprache bedeutsamer, während später erworbene Sprachfähigkeiten schneller verloren gehen“, so Kiefer.
Von den gut 16.500 stationären Alten- und Pflegeeinrichtungen in Deutschland ist jedoch keine nur auf Muslime ausgerichtet. Es gibt eine Handvoll muslimischer Abteilungen in gemischten Heimen, aber die stoßen auf eher mäßige Nachfrage. Zudem kursieren in Verbänden Schauergeschichten von Pflegerinnen ohne Sprachkenntnis und mit wenig Schamgefühl, dafür mit vielen Tätowierungen, buntem Haar und hautenger Kluft. Bei Personalnot hätten sie in der Muslim-Abteilung ausgeholfen und alte traditionelle Muslime arg verstört.
Muslimische Frauenhäuser: erwünscht, aber nicht vorhanden
Aber nicht überall steckt das Wohlfahrtsangebot für Muslime noch derart in den Anfängen. Bei Kita-Gründungen ist einiges passiert (angetrieben von Eltern, die schnell einen Platz für ihr Kind wollen), ebenso bei der Gefängnisseelsorge (hier waren die Länder Treiber, weil es große Nachfrage nach muslimischen Seelsorgern in den Anstalten gibt). Erblüht ist zudem die ambulante Pflege für Muslime durch private Anbieter (da sorgte auch privates Gewinnstreben für Tempo).
In anderen Bereichen dümpelt die Wohlfahrt für Muslime dagegen vor sich hin. Etwa beim Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt. So existiert bundesweit kein Frauenhaus speziell für Musliminnen, was laut Deutschem Frauenrat so manchen Gewaltopfern die Flucht erschwert. Islamische Frauenhäuser waren früher in muslimischen Verbänden umstritten. Inzwischen aber beteuert die DITIB, solch eine religionssensible Frauenhilfe wäre „äußerst hilfreich, um Frauen in akuten Notsituationen Wege aus ihrer Lage aufzeigen zu können“. Auch Burhan Kesici, der Vorsitzende des Islamrats, hält „kultursensible Angebote für Frauen insbesondere mit muslimischem Hintergrund“ für unverzichtbar, denn leider sei „Gewalt gegen Frauen kein Randphänomen“.
Ist der Islam die Lösung?
Gemessen am Bedarf mangelt es auch an professionellen Angeboten, die auf junge Muslime zugeschnitten sind. Das legte auch NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) jüngst nahe. Er teilte mit, unter den meist muslimischen Syrern im Land sei der Anteil gewalttätiger Jugendlicher überproportional hoch, dieses Problem könne aber nur „die Gesellschaft“ lösen. Sie müsse junge Menschen für einen friedlichen Lebensweg gewinnen. Die überwältigende Mehrheit von rund 95 Prozent der hier lebenden Syrer ist natürlich nicht kriminell. Auch behaupten weder Reul noch die Experten der Uni Osnabrück, der Islam sei Ursache des Gewaltproblems. Aber: Er könnte Teil der Lösung werden. Denn während junge Nichtmuslime überwiegend nicht religiös sind, bezeichnen sich junge Muslime zu rund 80 Prozent zumindest oberflächlich als religiös. Sie wären wohl am ehesten erreichbar durch muslimische Angebote, die zum friedlichen Lebensstil einladen.
Wer aber soll diese Aufgaben übernehmen? Ein muslimisches Pendant zu Caritas und Diakonie hatte die Deutsche Islamkonferenz (DIK) 2015 als langfristiges Ziel ausgegeben. Zehn Jahre später gibt es indes nur eine Organisation, die sich als islamische Miniatur-Caritas bezeichnen lässt: den Sozialdienst muslimischer Frauen (SmF) in Köln. Der arbeitet professionell, wird kräftig vom Bund gefördert, zählt aber nur 453 Mitarbeiter – für die Anliegen von über 5,5 Millionen Muslimen. Zum Vergleich: Caritas und Diakonie arbeiten mit über 1,4 Millionen Hauptberuflern und bis zu einer Million Ehrenamtlern.
Es bleiben: die ungeliebten Verbände
Deshalb bleibt es dabei, was die DIK 2015 konstatierte: Starke muslimische Netzwerke mit großem Personalreservoir besitzen am ehesten die Moscheeverbände. Allein die vier größten verfügen über geschätzt 1800 Moscheen. Immerhin rund 20 Prozent der Muslime sind in einem Verband aktiv. Zudem können die Verbände zwar nicht wie die Kirchen auf Milliardenvermögen zurückgreifen, wohl aber auf die Spendenbereitschaft ihrer Gläubigen. Beobachter wie Engin Karahan von der muslimischen Alhambra-Gesellschaft glauben zudem, viele Verbände könnten bei Bedarf mit Spenden aus dem Ausland rechnen.
Das Problem: Mit den meisten Verbänden tut sich der deutsche Staat schwer – wegen ihrer für deutsche Verhältnisse oft sehr konservativen Ausrichtung, weil der türkische Staat DITIB beeinflusst und weil der Verfassungsschutz einige partiell beobachtet (obwohl sie alle laut Verfassungsschutz jegliche Gewalt, Körperstrafen oder gar Umsturzideen strikt ablehnen). Mit ihnen mag der Staat nicht, ohne sie kann er nicht.
Konservativ, türkisch-patriotisch, vor allem aber friedlich
Und so liegt Potenzial brach. Wie das Beispiel Jugendarbeit verdeutlicht: Zwar sind die Verbandsmoscheen mit ihren Jugendgruppen fast überall im Land präsent und können junge Menschen mit offenen Treffs, Vorträgen, Wanderungen, Sport und Gemeinschaftserlebnis erreichen. Unbestritten gelingt es ihnen auch, jungen Muslimen einen (oft konservativen oder stramm türkisch-patriotischen, vor allem aber) friedlichen Lebensstil zu vermitteln. Doch überwiegend engagieren sich die Jugendarbeiter der Moscheen ehrenamtlich und ohne professionelle Ausbildung. Zum Vergleich: Kirchengemeinden verfügen fast alle über studierte, fest angestellte Gemeindepädagogen – ausgebildet in Seelsorge, Sozialarbeit, Sozialpädagogik.
Nun könnten die Moscheen ihre Mitarbeiter so professionalisieren, wie das viele Sozialverbände tun: Es werden Betreuungsprojekte entwickelt, anschließend wird bei Kommune oder Land eine befristete Förderung beantragt. So reift Know-how und immer mehr Fachleute wachsen heran. Doch Förderanträge aus Moscheeverbänden werden oft abgelehnt, Projekte von DITIB oder IGMG laut dne Verbänden derzeit nicht gefördert – und die muslimische Jugendarbeit bleibt unter ihren Möglichkeiten.
„Engagierte Menschen – der zentrale Rohstoff“
Experte Kiefer rät daher einerseits den Muslimen, „nicht den Mut zu verlieren“. Immerhin seien „engagierte Menschen der zentrale Rohstoff jeder Wohlfahrtsarbeit“. Andererseits rät er staatlichen Entscheidern, „muslimischen Initiativen mit etwas mehr Wohlwollen zu begegnen“. Schließlich gehe es hier weniger um Politik als um „hilfebedürftige demente Senioren, um Frauen, die vor Gewalt fliehen, oder um Jugendliche, die vor dem Abgleiten auf die schiefe Bahn geschützt werden sollten“.