Peter Hoeres: Rechts und links. Zur Karriere einer folgenreichen Unterscheidung in Geschichte und Gegenwart. Zu Klampen. 216 S., Fr. 36.90

Links ist ein geistiger Hohlraum, rechts ist ein propagandistischer Dämon. Es handelt sich heute nicht mehr um politische, sondern um moralische Kategorien, nämlich um gut und böse. Der Historiker Peter Hoeres hat dazu gerade einen interessanten, sehr gut lesbaren Essay vorgelegt. Neben einer Fülle spannender anthropologischer Beobachtungen zu dem binären Schema arbeitet Hoeres vor allem zwei Daten heraus: die Französische Revolution, die die Links-rechts-Unterscheidung umwertet. Seither ist das Rechte und das Richtige nicht mehr rechts, sondern reaktionär; das Linke ist nicht mehr schwach und linkisch, sondern revolutionär.

 

Die asymmetrische Republik

Das zweite Datum ist der deutsche «Kampf gegen rechts», der seit 2000, nach dem Aufruf des Kanzlers Schröder zum «Aufstand der Anständigen», immer populärer wurde. Spätestens jetzt wird überdeutlich, dass nach der Umwertung der politischen Rechts-links-Unterscheidung längst eine Asymmetrisierung erfolgt war. Auf die rechte Seite des politischen Spektrums wollte sich kaum mehr jemand stellen. Um auf der Seite der Guten zu sein, muss man sich heute am «Kampf gegen rechts» beteiligen. Er suggeriert in einer kuriosen politischen Topografie, dass die Mitte der Gesellschaft links ist.

Eigentlich würde einfachste Mathematik genügen, um zu verstehen, dass die Aufgabe der Stimmenmaximierung die politischen Wettbewerber dazu zwingt, auf der Rechts-links-Achse jeweils in die Mitte zu gehen. Die Mitte ist das Unbestimmte, in dem sich alle treffen können. Sie ist das Medium, in das man immer wieder neue Formen und alte Werte eindrücken kann – wie mit Förmchen im Sandkasten. Doch die Mitte ist langweilig; deshalb muss man sie künstlich polarisieren. Mit anderen Worten: Die politischen Differenzen minimieren sich beim Kampf um die Mitte; deshalb müssen die rhetorischen Differenzen maximiert werden. Dass das in Deutschland zurzeit nicht gleich erkennbar ist, liegt an der Verschiebung der politischen Topografie durch die «Brandmauer» der Altparteien gegen die AfD. Die Mitte liegt jetzt weit links.

 

Repressive Toleranz

Vor allem in der politischen Topografie der Mainstream-Medien gelten die Linken als die neue Mitte, und alles, was rechts davon liegt, gilt als rechtsextrem. Und da verschärfend hinzukommt, dass das politische «links» und «rechts» durch das moralische «gut» und «böse» überformt wird, haben wir es heute auch mit einer modernen Variante des antiken Zensors zu tun. Das hat uns die Cancel-Culture beschert. Sie herrscht in den Bildungsinstitutionen genauso unumschränkt wie in den öffentlich-rechtlichen Medien. Das hat für jeden Bürger zur Folge, dass nein zu sagen immer teurer wird. Es geht deshalb vor allem auch um Mut und Angst. Früher fürchteten sich die Menschen, das Unwahre zu sagen. Heute fürchten sie sich nur noch davor, mit ihrer Meinung allein zu bleiben.

Die kapitalistische Zivilisation finanziert ihre eigenen Feinde und lässt sich von ihnen belehren.

Um ihre Wahrheit zu verkünden, wollen die Linken denen, die widersprechen, den Mund verbieten. Sie folgen damit einer Anweisung, die der Philosoph und Führer der amerikanischen Studentenbewegung Herbert Marcuse schon den 68ern gegeben hatte, nämlich die «repressive Toleranz» der bürgerlichen Meinungsfreiheit durch die «befreiende Toleranz» der Revolution zu ersetzen. Gemeint war und ist: Weil unsere Gesellschaft in Gefahr ist, ist es gerechtfertigt, die Rede- und Versammlungsfreiheit aufzuheben. Und das bedeutet konkret: «Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts und Duldung von Bewegungen von links.» Dieser Kampf gegen rechts scheint über dem Recht zu stehen, und das wird damit begründet, dass die Demokratie in Gefahr sei.

Wir haben es hier mit einer bunten Mischung zu tun. Da gibt es die Champagner-Sozialisten der Luxusviertel und die Kathedersozialisten der Universitäten, die, weil steuerfinanziert, streng etatistisch sind. Da gibt es die antibürgerliche Bohème mit ihrem modischen Antikapitalismus, den Tom Wolfe schon 1970 «radical chic» genannt hat. Und da gibt es eine politische Linke, die infantil genug ist, T-Shirts zu tragen, auf denen «Tax the Rich» und «Eat the Rich» zu lesen ist. Gerade weil unsere Gesellschaft ökonomisch erfolgreich ist, setzt die Linke auf Klassenneid. Und verlässlich wird sie von den Intellektuellen und Künstlern in dieser Gefühlsarbeit des Ressentiments gegen die Reichen unterstützt. Entscheidend ist dabei: Die revolutionären Töne kommen nicht von unten, sondern von den Intellektuellen.

Der Aktivist macht einen Sprung aus der Komplexität in die Naivität, während der Linksintellektuelle im Elfenbeinturm seiner antikapitalistischen Theorien verbleibt. Beide sind die Produkte der westlichen Universitäten, die sich vor allem in ihren geisteswissenschaftlichen Departements oft als Brutstätten des Wahnsinns, als Treibhäuser der Weltfremdheit erweisen.Linkes Ideal ist ein Sozialstaatsabsolutismus, für den Bürgergeld und bedingungsloses Grundeinkommen die wichtigsten Signalbegriffe sind. Man kann sich das an der Entwicklung der SPD am besten deutlich machen: Sie hat sich von der Partei der Arbeiter zur Partei der Nichtarbeiter entwickelt und züchtet die antikapitalistische Mentalität. Wie die Linke insgesamt setzt sie nur noch auf das Lumpenproletariat und die Bohème, vor allem auf die Bürgergeldempfänger und die Woken. Das hat aus der Sozialdemokratie eine Gefühlsdemokratie gemacht.

Interessanterweise ist es die «rechte» bürgerliche Gesellschaft selbst, die die subversive Arbeit der Linksintellektuellen legitimiert. Die kapitalistische Zivilisation finanziert ihre eigenen Feinde und lässt sich von ihnen belehren. Es zahlt sich für den Intellektuellen also aus, die bürgerliche Gesellschaft nicht zu umschmeicheln, sondern zu attackieren. Eine Gesellschaft, die sich weder an Religion noch an bürgerlicher Tradition und gesundem Menschenverstand orientieren kann, wird zum willenlosen Opfer eines Tugendterrors, der in Universitäten, Redaktionen und Antidiskriminierungsämtern ausgebrütet wird.

Wir haben es hier auch mit einem Strukturproblem der Bildungsanstalten zu tun. Die Schüler und Studenten erleben überlange Ausbildungszeiten ohne Realitätskontakt, und das verwandelt vor allem die Universitäten in wahre Treibhäuser der Weltfremdheit. Und da sie politisch von den Linken indoktriniert sind, treten Gesinnung und Haltung an die Stelle von Leistung und Kompetenz. So entstehen woke, weltfremde Linksintellektuelle, die nur in regierungsnahen Medien, NGOs und Bildungsanstalten eine Verwendung finden können.

Den Bildungsprozessen fehlt die Realitätskontrolle. Sie produzieren sehr intelligente, aber unreife Menschen. Der gemeinsame Nenner der jugendlichen Umweltaktivisten und der Jugendorganisationen unserer grossen Parteien ist ein freischwebendes Linksextremsein, das geradezu stolz darauf ist, unberührt von der Wirklichkeit zu sein. Man wird nicht mehr erwachsen, die Prozesse der psychosozialen Reifung werden frühzeitig unterbrochen, und im Gegenzug werden alle möglichen Formen von Regression normalisiert. Verantwortungslosigkeit, mangelnde Selbstdisziplin, Tagträumerei, Gruppenkult und Narzissmus, Masslosigkeit im Urteil und Unduldsamkeit gegenüber anderen Meinungen sind für die jungen Leute im Elfenbeinturm charakteristisch. An die Stelle der demokratischen Legitimation tritt die existenzielle Rechtfertigung. Betroffenheit und Angst ersetzen das Argument und den Kompromiss.

Alles, was rechts von diesem links-grün-woken Mainstream ist, wird dämonisiert. Da die Metapher Brandmauer vor allem auch von der CDU benutzt wird, haben wir es seit Jahren mit einer Selbstlähmung des Konservativismus zu tun. Das erklärt das Eunuchenhafte der CDU. Solange sich aber die ehemals grosse konservative Partei an der Teufelsaustreibung gegen die AfD beteiligt, im Kampf gegen rechts in der ersten Reihe marschiert und die Brandmauer zu ihrem Markenzeichen macht, ist in der politischen Arena kein Konservativismus mehr möglich.

 

Komplexität macht konservativ

Das stärkste Argument für den Konservativismus ist die Komplexität der modernen Welt. Unvorhersehbarkeit und Unsicherheit sind ihre wesentlichen Charakteristika. Die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg haben uns das in dramatischer Weise vor Augen geführt. Solche Komplexitätserfahrungen machen konservativ und ersparen uns den Realitätsverlust, der so charakteristisch für die utopische, planende Vernunft der Linken ist. Im Politischen gibt es nämlich keine Wahrheit, sondern man schafft Wirklichkeit. Deshalb kann man politische Urteile auch nicht beweisen, sondern nur bewähren.

Urteilskraft ist eine unhintergehbare Kategorie. Der grosse Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant, hat sie als eine Sache der Reife verstanden. Urteilskraft ist, wie es in seiner Anthropologie heisst, «der Verstand, von dem man sagt, dass er nicht vor den Jahren kömmt; der auf einer langen Erfahrung gegründet ist». Man kann sie nicht lernen, sondern nur üben. Zu dieser Übung sind die deutschen Politiker offenbar nicht bereit. Stattdessen wird der «Kampf gegen rechts» wie ein riesengrosser Teppich ausgebreitet, unter den man alle realen Probleme kehren kann.

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