Am 23. Februar kommenden Jahres wird der Deutsche Bundestag gewählt, und man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass eine Partei deutlich besser abschneiden wird als beim letzten Urnengang: die Alternative für Deutschland (AfD). Traut man der Demoskopie, kann sie mit 18 bis 19 Prozent der Voten rechnen, also fast einer Verdoppelung ihres Stimmenanteils gegenüber der Wahl von 2021.
Ein spezifisch deutsches Phänomen
Wenn es so weit ist, werden das Staatsoberhaupt und die Kommentatoren ihre Verzweiflung über die Spaltung der Gesellschaft zum Ausdruck bringen, und auf der Strasse dürfte eine sehr breite antifaschistische Koalition marschieren: vom Schwarzen Block über andere Linke, Sozialdemokraten, Gewerkschaften, die Kirchen bis zu den Unionsparteien. Jede Initiative zwecks Demokratieförderung kann auf noch mehr Geld für den «Kampf gegen rechts» hoffen. Sicher bekommen wir eine neue Verbotsdebatte und in jedem Fall das fortgesetzte Bemühen des Verfassungsschutzes, der Partei am Zeug zu flicken. Aber das alles wird nicht über die entscheidende Tatsache hinwegtäuschen: Die AfD ist gekommen, um zu bleiben.
Was keine Selbstverständlichkeit ist, bedenkt man das Schicksal aller Neugründungen rechts der Mitte seit den 1960er Jahren oder die Häutungen von der marktliberalen, eurokritischen «Professorenpartei» hin zur nationalen Sammlung. Die unruhige Basis der Alternative hat schon drei Vorsitzende verschlissen, die Flügelkämpfe sind bis heute nicht zur Ruhe gekommen, es gibt einen schwer kontrollierbaren lunatic fringe, und sich öffentlich zur AfD zu bekennen, macht oft genug «unberührbar» (Justus Bender).
Die Assoziationskette «AfD – rechts – rechtsextrem – Hitler – Auschwitz» nutzt sich nur langsam ab. Aber es mehren sich die Stimmen, die aus sachlichen Gründen den «nazistischen» Charakter der AfD bestreiten und darauf hinweisen, dass der Unterschied zu anderen «nationalpopulistischen» Parteien – dem Rassemblement national in Frankreich, den Fratelli d’Italia oder der Freiheitlichen Partei Österreichs – verschwindend gering ist. Mit denen teilt die Alternative die Frontstellung gegen den Globalismus, die Skepsis gegenüber der EU, die Aversion gegen die woken Eliten, gegen die Masseneinwanderung und den wachsenden Einfluss des Islam, den Vorzug, den man Souveränität, direkter Demokratie und gesundem Menschenverstand einräumt. Aus dieser Sicht stellt die AfD die deutsche Vertretung des Stamms der somewheres – derjenigen, die noch irgendwo verwurzelt sind – gegen die any-wheres – der Kosmopoliten, die glauben überall zu Hause zu sein –, um die Formulierung David Goodharts zu verwenden.
Womit nicht in Abrede gestellt sei, dass die AfD auch ein spezifisch deutsches Phänomen ist. Deutlich erkennbar wird das an der Regelmässigkeit, mit der ihre Repräsentanten zwei Dogmen in Frage stellen, die zum Kern bundesrepublikanischer Zivilreligion gehören: die Vergangenheitsbewältigung und die Westbindung. Der eine Glaubenssatz hält fest, dass die Deutschen eine Kollektivschuld nicht nur für die Verbrechen der NS-Zeit tragen, sondern noch darüber hinaus, durch die Verursachung des Ersten Weltkriegs, Vernichtungsfeldzüge in den Kolonien, die Ausbeutung der Dritten Welt und den Klimawandel. Der andere betrifft die Überzeugung, dass die Deutschen sich historisch auf einem «Sonderweg» verirrt hatten, der zwangsläufig zur Machtübernahme Hitlers, zum Zweiten Weltkrieg und Massenmord führte, ein Vorgang, der erst mit der «Befreiung» durch die Alliierten endete, die dafür sorgte, dass die Deutschen qua westernization in den Kreis der zivilisierten Völker eingegliedert werden konnten.
«Zeitenwende» ohne Erkenntnis
Das fromme Bekenntnis zu Vergangenheitsbewältigung und Westbindung gehört zum Erbe der alten Bundesrepublik. In den neuen Ländern nahm man es, wenn überhaupt, dann nur zögernd an. Jedenfalls muss der «Wessi», der dem «Ossi» die übliche Geschichtspolitik nahebringen will, auf Einwände gefasst sein, die er selbst längst nicht mehr zu äussern wagt. Das reicht vom Hinweis auf die grossen Verbrechen der anderen bis zur Auffassung, dass in einer Diktatur dem Volk die Untaten der Führung kaum zuzurechnen sind. Hinzu kommt eine ältere, vom SED-Regime nie in Frage gestellte Reserve gegenüber dem Amerikanismus und seinem kulturellen wie moralischen Überlegenheitsanspruch.
Man kann die Polemik gegen den deutschen «Schuldkult» wie die ausgeprägte «Ostalgie» und die bizarre Liebe zu Putins Russland in Teilen der AfD als Ausdruck von Reaktanz betrachten: wachsender Widerstand bei gesteigertem Meinungsdruck. Aber wahrscheinlich geht es um mehr. Wenn man in der Sprache der Psychologie bleiben will, ist der Aufstieg der AfD auch ein Anzeichen dafür, dass die «Verdrängung» im kollektiven Unbewussten der Deutschen an ihre Grenzen kommt. Die hat seit Jahrzehnten funktioniert und die Deutschen überzeugt, dass es Wege gibt, sie von ihrer nationalen Existenz zu erlösen: durch Konsum, durch das Aufgehen in Europa oder gleich in einer Weltrepublik. Die Ampelkoalition war, wenn sonst nichts, dann die letzte Manifestation des Wunsches, dass es nur noch Individuen, die sich selbst erfinden, und den Globalstaat geben möge, kein Dazwischen, keine Politik mit ihren geografischen, militärischen, finanziellen Zwängen. Dann wurde diese Illusion im Zuge der «Zeitenwende» abgeräumt, ohne dass die tonangebenden Kreise die neue Lage begriffen und angemessene Folgerungen gezogen hätten.
Was umso verstörender wirkt, als Realitätsblindheit in der Vergangenheit – sei es die Grenzöffnung von 2015, sei es die Abfolge terroristischer Anschläge, sei es die Weigerung, Fehler bei der Bekämpfung der Pandemie zuzugeben – den Populismus immer weiter erstarken liess. Auch der erwartbare Stimmenzuwachs für die AfD bei der kommenden Bundestagswahl erklärt sich in erster Linie aus diesem Zusammenhang. Was nicht bedeutet, dass die Alternative länger eine Protestpartei ist. Sie wird in wachsendem Mass aus Überzeugung gewählt. Nimmt man deren jüngstes Programm zum Massstab, gewinnt man eher den Eindruck, dass es ihr darum geht, den Platz einzunehmen, den CDU und CSU im Laufe ihrer «Modernisierung» geräumt haben. Man will «freie Fahrt für freie Bürger» und die Rückkehr zur Atomkraft, den Abbau der Bürokratie wie der Steuerlast, Schutz von Ehe und Familie, Verschärfung des Abtreibungsrechts, Stärkung von Landwirtschaft und Mittelstand, Wiederherstellung der inneren Sicherheit, Grenzregime und scharfe Kontrolle der Migrationsbewegungen.
Allerdings gehen die Überlegungen zu einem Dexit und zur Generalreform der EU, die in eine Föderation umgewandelt werden soll, der Wunsch nach einer eigenen – goldgestützten – Währung und die Absicht, den USA die Stationierung von Langstreckenwaffen auf deutschem Boden zu verbieten, über alles hinaus, was die Union je zu denken wagte. Man sollte deshalb die Möglichkeit ins Auge fassen, dass die AfD weder die Union ist, wie sie einmal war, noch eine Neuauflage der Republikaner, des Bundes freier Bürger oder ähnlicher Anläufe, sondern die erste Partei der Berliner Republik.
Fixierungen der Nachkriegszeit
Sie realisiert, was Peter Glotz, damals Vordenker der Sozialdemokratie, vor drei Jahrzehnten angekündigt hat: die Zwangsläufigkeit, mit der sich nach der Wiedervereinigung die «Normalisierungsnationalisten» etablieren müssten. Nimmt man den Begriff «Nationalisten» cum grano salis, dann meinte Glotz damit, dass die Fixierungen der bundesdeutschen Politik, die in der Nachkriegszeit angelegt und in der Ära Kohl noch einmal fixiert wurden, auf Dauer keinen Bestand haben können. Die veränderte Gesamtsituation werde notwendig politische Kräfte entfesseln, die durch die Blockkonfrontation stillgelegt waren.
Seine Annahme, dass dieser Vorgang unmittelbar nach der Wiedervereinigung einsetze, hat sich zwar als falsch erwiesen. Die Trägheit der Deutschen und der deutschen Verhältnisse ist eine altbekannte Tatsache. Aber heute, angesichts der «Identitätskrise des Westens» (Samuel Huntington) und der Entstehung eines multipolaren Staatensystems, des Zweifels an der Stellung des «Exportweltmeisters» und der Güte des «Rheinischen Kapitalismus» und der unbegrenzten Integrationskraft der «bunten Republik» scheint die Zeit gekommen, um über die Aufstellung der politischen Lager neu nachzudenken.
Eine stabile und «entdämonisierte» AfD wäre ein wichtiger Schritt in diese Richtung, ein Vorgang wie jüngst bei der Abstimmung im Petitionsausschuss des Bundestags, als die Alternative zusammen mit CDU/CSU und FDP die Mehrheit stellte, ein Modell für das, was kommen könnte.
Karlheinz Weissmann ist ein deutscher Historiker und Mitgründer des Monatsmagazins Cato.
Falls die AfD einen "zu hohen" Stimmenanteil bekommt besteht die Gefahr, dass die Wahl unter fragwürdigem Vorwand für ungültig erklärt wird. (Einmischung Putin, Musk) Steinmeier hat ja sowas durchblicken lassen.
"Jede Initiative zwecks Demokratieförderung kann auf noch mehr Geld für den «Kampf gegen rechts» hoffen." Jetzt mal auf den Punkt: Ohne Eigentum keine Demokratie. Oder wollen Sie demokratisch über Dinge befinden, die Ihnen nicht gehören? "Kampf gegen Rechts" ist aber gerade "Kampf gegen das Eigentum". Gegen Eigentumsansprüche der Bürger in ihrem eigenen Land. Man finde den Widerspruch!
ein sehr zutreffender Artikel von Herrn Weissmann! Wünschenswert für Deutschland und Europas ist, dass diese neue Realität bei der anstehenden Bundestagswahl zum Tragen kommt. Da soll auch diese Brandmauer zusammenstürzen. Sie geht ja nicht nur auf Merkel zurück, sondern auch auf eine Doktrin von Franz Josef Strauß: rechts der CSU dürfe es keine Partei geben. Die kann aber nicht mehr gelten, seit sich CDU und CSU nach links bewegt haben. Strauß würde heute anders denken.