Neue Studie: Kernkraft könnte die Kosten der deutschen Energiewende deutlich senken

Fast die Hälfte des deutschen Stroms könnte 2045 aus Kernkraftwerken kommen – zu deutlich niedrigeren Kosten als ein reiner Ökostrom-Mix. Das zeigt eine neue Untersuchung, die der NZZ vorab vorliegt.

Johannes C. Bockenheimer, Berlin 3 min
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Schluss, aus und vorbei: Sprengung der Kühltürme des bayrischen Kernkraftwerkes Grafenrheinfeld.

Schluss, aus und vorbei: Sprengung der Kühltürme des bayrischen Kernkraftwerkes Grafenrheinfeld.

Harry Koerber / Imago

Die Zeit drängt: Deutschland soll bis 2045 klimaneutral werden. Das bedeutet, dass keine zusätzlichen Treibhausgase mehr in die Atmosphäre gelangen dürfen – und unvermeidbare Emissionen vollständig ausgeglichen werden müssen. Nicht zuletzt für die Energieversorgung hat das Konsequenzen: Elektrische Speicher müssen installiert, die Stromnetze modernisiert und Solar- und Windkraft ausgebaut werden.

Eine neue Untersuchung der Umweltorganisation Weplanet, die der NZZ vorab vorliegt, stellt jetzt allerdings die Strategie der deutschen Energiewende infrage. Der Ausstieg aus der Kernkraft, so argumentieren die Studienautoren, führe zu höheren Kosten als nötig, höheren Emissionen als notwendig und darüber hinaus zu einer geringeren Versorgungssicherheit des Landes.

Die Forscher analysieren dabei zwei unterschiedliche Wege, wie Deutschland seinen Stromsektor bis zum Jahr 2045 gestalten könnte: ein Szenario, das neben Wind- und Sonnenkraft auch auf Atomkraftwerke setzt, und eines, das vollständig auf erneuerbare Energien wie Wind und Sonne baut.

Atomkraft könnte fast die Hälfte des Stroms liefern

Das Szenario mit Atomkraft sieht vor, dass Deutschland im Jahr 2045 rund 43 Prozent seines Stroms aus Kernkraftwerken gewinnt. Dafür müssten nicht nur die kürzlich abgeschalteten Meiler wieder ans Netz gehen, sondern auch neue Anlagen gebaut werden. Den Rest des Stroms würden vor allem Windräder an Land (34 Prozent) und Solaranlagen (11 Prozent) liefern.

Der Vorteil dieses Weges: Die Stromversorgung wäre wetterunabhängiger und damit verlässlicher. Auch die Kosten lägen laut der Studie deutlich niedriger – der Strompreis etwa bei 82 statt 105 Euro pro Megawattstunde. Da weniger Stromleitungen gebaut werden müssten, würden auch die Netzausbaukosten mit 0,7 statt 8,5 Euro pro Megawattstunde nur einen Bruchteil dessen betragen, was ohne Atomkraft nötig wäre.

Ohne Atomkraft mehr Gas und Importe nötig

Ganz anders sieht das Szenario ohne Atomkraft aus: Hier müssten Wind- und Solaranlagen den Grossteil der Stromversorgung übernehmen. Windräder an Land und auf See würden zusammen etwa die Hälfte des Stroms erzeugen, Solaranlagen kämen auf 28 Prozent. Da Wind und Sonne nicht immer zur Verfügung stehen, wären deutlich mehr Gaskraftwerke als Reserve nötig.

Das hat Folgen: Der Erdgasverbrauch läge mehr als dreimal so hoch wie im Szenario mit Atomkraft. Auch müssten deutlich mehr Stromspeicher gebaut werden. Der Bedarf an wichtigen Rohstoffen wie Lithium oder seltenen Erden wäre um 66 Prozent höher. Zudem würde Deutschland stärker von Stromimporten aus dem Ausland abhängig.

Zwei Wege zur Klimaneutralität

Energiewende-Szenarien im Vergleich
  • 1 / 2
Mit Atomkraft Ohne Atomkraft
Stromerzeugung
Atomkraft 43% 0%
Windkraft (Land) 34% 31%
Windkraft (See) 0% 21%
Solarenergie 11% 28%
Sonstige (inkl. Bioenergie) 12% 20%
Kosten und Preise
Strompreis (€/MWh) 82 105
Netzausbaukosten (€/MWh) 0,7 8,5
Klimawirkung

Forscher empfehlen Überdenken der Energiestrategie

Die Autoren der Studie kommen deshalb zu dem Schluss: Deutschland sollte seinen bisherigen Kurs überdenken. Ein Mix aus erneuerbaren Energien und Atomkraft könnte die Klimaziele nicht nur günstiger erreichen, sondern auch zuverlässiger. Mit Atomkraft würde Deutschland im Jahr 2045 nur noch ein Drittel der klimaschädlichen Gase ausstossen, die ohne Atomkraft entstehen würden.

Allerdings räumen die Forscher ein: Der Ausbau der Atomkraft wäre eine gewaltige Herausforderung. Bis 2045 müsste Deutschland seine Kraftwerkskapazität auf 57 Gigawatt erhöhen. Davon könnten die sechs kürzlich abgeschalteten Meiler etwa 8 Gigawatt beisteuern, wenn sie wieder ans Netz gingen. Selbst wenn nur die Hälfte der angestrebten Kapazität erreicht würde, könnte dies aber bereits deutliche Vorteile bei Kosten und Klimaschutz bringen. Die Zeit für eine Kurskorrektur dränge jedoch: Je später Deutschland umsteuere, desto schwieriger werde es, die Klimaziele zu erreichen.

Ökonomin mahnt differenzierte Bewertung an

Eine rein wirtschaftliche Betrachtung der Kernkraft greife möglicherweise zu kurz, mahnt ihrerseits die «Wirtschaftsweise» Veronika Grimm. Die Kostenabschätzungen für Atomenergie variierten stark – je nachdem, wer die Studien erstelle. Während etwa die Internationale Energieagentur (IEA) die Kosten eher niedrig einschätze, setzten atomkritische Studien oft doppelt so hohe Kosten an. «Es zeigt sich, dass die ökonomische Bewertung der Kernkraft keine rein technische oder wissenschaftliche Frage ist», sagt Grimm. Vielmehr sei es eine politische Entscheidung, die auch die gesellschaftliche Risikobewertung und langfristige Strategien berücksichtige.

Einen eindeutigen Kostenvorteil beim Bau neuer Kernkraftwerke sieht die Ökonomin daher nicht. Allerdings könnten geopolitische Faktoren zu einer Neubewertung führen – etwa ein möglicher Wegfall des nuklearen Schutzschirms der USA. In diesem Fall müsse Deutschland als grosse Volkswirtschaft entweder in die Technologieentwicklung investieren oder sich an der Finanzierung beteiligen. Diese Diskussion sei «dringend notwendig», denn sie habe nicht nur sicherheitspolitische, sondern auch ökonomische Auswirkungen – etwa durch die Einsparung von Kriegskosten. Die Gesamtkosten und Sicherheitsaspekte müssten daher in der Bewertung der Atomkraft berücksichtigt werden.