Christliche Anmassung ist ebenso
unchristlich wie antichristlich.

Arnold J. Toynbee

 

Die «ich-bezogene Vergötzung des Menschen» (Toynbee), die Anbetung irdischer Kollektivmacht im Zeichen von Nationalismus, Kommunismus, Wokeismus oder früher: Faschismus und Nazismus ist die Wurzel allen Übels, und die grossen Weltreligionen eint das gemeinsame Bestreben, dieses Unheil zu überwinden. Unter ihnen nimmt das Christentum keine Ausnahmestellung ein. Es ist einfach der in unseren Breiten heimisch gewordene Versuch, dem Rätsel des Universums auf die Schliche zu kommen und den Menschen vor der Selbstvernichtung durch Selbstvergötterung zu bewahren.

Mit Blick auf Ostern schadet es nicht, an solche Einsichten zu erinnern. Wir sollten uns als christlich geprägte Menschen nichts darauf einbilden. Das Christentum ist keine Auszeichnung, kein exklusiver Club, der seine Mitglieder veredeln, über andere erheben würde. Der Hochmut, auch der sich christlich gebende, ist, was man früher eine Todsünde genannt hätte. Der kollektive Hochmut, das betrügerische Wir-Gefühl, einer höheren Gemeinschaft anzugehören, ist unchristlich, unislamisch, nichtjüdisch. Auch Hindus und Buddhisten könnten mit solcher Anti-Demut nichts anfangen.

Als die christliche Regierung des römischen Kaisers im 4. Jahrhundert nach Christus in der alten Hauptstadt des Reichs die Entfernung der Statue und des Altars der Göttin Viktoria angeordnet hatte, die von Julius Cäsar dem Senat gestiftet worden waren, stellte sich der Sprecher des Senats, Quintus Aurelius Symmachus, der geplanten Unterdrückung der nichtchristlichen, heidnischen Religion, der er selber angehörte, mit der zweifellos wahren Aussage entgegen: «Es ist undenkbar, dass man sich einem so grossen Geheimnis nur auf einem Wege nahen könnte.»

Symmachus scheiterte, Statue und Altar mussten weichen, doch seine Worte hallen nach. Das grosse Geheimnis des Universums, des Ursprungs, die Grundfrage aller Religionen, ist zu gross, als es dafür nur ein mögliches System von Antworten geben könnte. Das Christentum, das sich in Rom durchsetzte, kann diesen Anspruch genau so wenig erheben wie das Judentum, der Islam, die Hindu-Religion oder der Buddhismus. Doch allen diesen Religionen ist etwas gemeinsam: Sie verkünden, jede auf ihre Art, die Vorstellung, dass der Mensch nicht das höchste geistige Wesen im Universum ist.

Man sollte sich eingehender mit der Frage beschäftigen, ob diese grosse Gemeinsamkeit der Weltreligionen nicht wichtiger und mächtiger ist als alles, was sie trennt. Jahrtausendelang haben die Menschen die Natur, dann die Macht angebetet, grosse Könige, Kaiser und Reiche. Erst die neueren «Hochreligionen» führten ein anderes Bewusstsein herbei, die Idee, dass die grösste, verehrungswürdige Autorität nicht von dieser Welt sei, dass es über der irdischen Existenz etwas Höheres, Massgeblicheres gibt, mit dem sich die Menschen in Harmonie bringen sollten.

«Der Geist, den du haben solltest, ist der Geist, der in Jesus Christus war. Dort war er in Gestalt Gottes, aber er wollte nicht Gott gleich sein als ein Lohn, der erlangt werden soll. Sondern er entäusserte sich seiner selbst und nahm Knechtgestalt an und die menschliche Erscheinung. Aber er erniedrigte sich nicht nur, indem er menschliche Gestalt annahm, er demütigte sich im Gehorsam bis zum Tode, bis zum Tode am Kreuz.» So formulierte der Apostel Paulus die für Christen prägende Vorstellung eines Gottes, der die Menschen so sehr liebt, dass er sich für ihre Erlösung selber opfert.

Leider hat auch der christliche Glaube in der Vergangenheit sich mit dem Fanatismus verbündet. Die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts sind verbrecherische Nachahmungen und Übersteigerungen des Glaubenseifers von Päpsten, Pfaffen, Herrschern, Kreuzrittern, Conquistadoren, Inquisitoren, protestantischen Hexenjägern und was an Beispielen noch zu finden wäre. Wenngleich im Namen von Kirchen verübt, so waren diese Rasereien doch am Ende vor allem Missbrauch, Rückfall, Entstellung der Idee eines liebenden Gottes der Demut und der Selbstaufopferung.

Jeder Anspruch auf Ausschliesslichkeit ist Selbstsucht, Irrweg, christlich gesprochen: Sünde. Das Osterfest vergegenwärtigt die Botschaft der Bibel, dass der selbstlose Tod des Gottessohns nicht das Ende ist, sondern Opfer, Neuanfang, Aufstand des Lebens über das Nichts. Die Hinrichtung am Kreuz war die schändlichste Strafe im Römischen Reich, das in dieser Folter seine Macht demonstrierte. Die Christen nahmen das Kreuz zum Zeichen ihres Glaubens. So wandten sie es gegen ihre Peiniger und machten es, in ihrer dunkelsten Stunde, zum Symbol der Hoffnung und des Widerstands.

Man kann starke Überzeugungen, einen festen Glauben haben, ohne in Überheblichkeit und Intoleranz zu verfallen. Auch das ist eine Lehre des Christentums, aber nicht nur des Christentums. Wenn die wesentliche Forderung aller Weltreligionen darin besteht, die Erbsünde, die Selbstsucht, den aggressiven Hochmut zu bekämpfen, dann liegt hier nicht nur ein Schlüssel zu einem besseren, friedlicheren Zusammenleben, sondern auch ein gemeinsamer Auftrag, immer wieder anzutreten gegen den tief im Menschen wurzelnden Trieb, die Macht, das Gemachte zu vergöttern und damit sich selbst.

Frohe Ostern!